Die Heilung am Teich Betesda

Predigt zu Johannes 5,1-9.

Gehalten am Sonntag, 26. März 2023 von Pfarrer Konrad Bruderer

Danach war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem.

Es ist aber in Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der heisst auf Hebräisch Betesda. Dort sind fünf Hallen; in denen lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte.

Es war aber dort ein Mensch, der war seit achtunddreissig Jahren krank. Als Jesus ihn liegen sah und vernahm, dass er schon so lange krank war, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden? Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein. Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin! Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin. Es war aber Sabbat an diesem Tag. 

Liebe Gemeinde!

Das ist die zweite der drei Heilungsgeschichten im Johannesevangelium.

Dass es drei sind, ist natürlich kein Zufall. Die Zahle in der Bibel und bei Johannes im Speziellen sind nie zufällig:

Drei ist die Zahl Gottes, Vater – Sohn – Geist.

Dreimal heilt Jesus im Namen Gottes einen Menschen.

Die heutige Geschichte fängt so an:

Es ist aber in Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der heisst auf Hebräisch Betesda. Dort sind fünf Hallen; in denen lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte.

Auch hier ist nichts zufällig:

Dass es genau fünf Säulenhallen waren, ist kein Zufall.

Dass der Teich «Betesda» hiess, ist auch kein Zufall.

Und schon gar nicht ist es ein Zufall, dass drei Arten von Kranken erwähnt werden: Blinde, Lahme und Ausgezehrte.

Zuerst die fünf Säulenhallen in diesem antiken Heilbad:

Fünf ist die Zahl der menschlichen Bedürftigkeit und zugleich der göttlichen Gnade, der Erlösung. Passt: Wer liegt denn hier unter diesen fünf Säulenhallen, wenn nicht der Mensch in seiner Bedürftigkeit, der leidende Mensch! Und nun kommt in der Person von Jesus die göttliche Barmherzigkeit zum leidenden Menschen!

Nun kann es uns auch nicht weiter verwundern, dass der Teich auf Hebräisch Betesda heisst, zu deutsch: «Haus der Barmherzigkeit»!

Allerdings ist es nicht das Wasser, das den Menschen heilt, sondern das Wort, das Jesus zu ihm spricht. Wasser kann nicht barmherzig sein, das kann nur ein lebendes Wesen, eben: Eins mit einem Herzen. Und nun werden sie uns exemplarisch vor Augen geführt, die drei (!) grundlegenden Gebrechen des Menschen vor Gott:

Blind – Lahm – Ausgezehrt (wörtlich eigentlich «verdorrt»; die Übersetzung der Gute Nachricht Bibel spricht von «Menschen mit erstorbenen Gliedern»).

Gott gegenüber sind wir – oft genug – wie blind: Wir sehen nicht, was wirklich ist, die Welt als Gottes Schöpfung, sichtbares Zeichen und Bild Seiner unsichtbaren Liebe und Güte. Wir haben blinde Flecken in unserer Wahrnehmung. Wir sehen die Oberfläche, das Vordergründige – und nicht das Wesen der Dinge, die Wahrheit.

Gott gegenüber sind wir – oft genug – wie lahm: Wir gehen nicht dort hin, wo wir eigentlich hin gehören würden, in Gottes Nähe. Oder wir gehen überhaupt nicht, sondern bleiben stehen – voller Angst etwas falsch zu machen, voller Angst etwas zu verlieren, voller Angst. Statt Jesus nach zu folgen, bleiben wir wie gelähmt stehen.

Und schliesslich: Gott gegenüber sind wir – oft genug – wie ausgezehrt, verdorrt wie ein abgestorbener Baum; als wären  Teile unseres Menschseins verloren gegangen. Wir sind nicht so geworden, wie es Gott gefallen würde (auch wie wir es selber gerne geworden wären); wir haben uns in vielen Dingen nicht so entwickelt, wie es dem Bild Gottes, Seiner Vision vom Menschsein, entsprechen würde. Unsere Seele ist von Verletzungen geschädigt, wir sind blockiert; stehen nicht aufrechten Hauptes mit beiden Beinen fest auf der Mutter Erde und ragen nicht mit unserem Geist in Gott Vaters Himmel hinein, sondern verbringen unser Leben gekrümmt und gebückt vom dem, was uns belastet.

Wir lesen weiter:

Es war aber dort ein Mensch, der war seit achtunddreissig Jahren krank. Als Jesus ihn liegen sah und vernahm, dass er schon so lange krank war, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden? 

Die Zahlen in der Bibel!

38 Jahre lang war der Mann schon krank – Johannes und die Bedeutung der Zahlen, ein spannendes Kapitel:

38 Jahre lang musste das Volk Israel unter Mose noch durch die Wüste ziehen, nachdem es zwei Jahre nach dem Auszug aus Ägypten an den Grenzen des Gelobten Landes angekommen war. Das macht dann zusammen die bekannten 40 Jahre des Exodus.

Warum war das so? Weil das Volk sich von den Schauerberichten der Kundschafter so sehr verängstigen liessen, dass es Gottes Zusage nicht mehr glaubte. Angst statt Vertrauen also, wieder einmal! Gelähmt vor Angst! So musste das Volk noch 38 Jahre lang durch die Wüste ziehen, bis alle waffenfähigen Männer der Auszugs-Generation gestorben waren.

Zum Zeichen dafür, dass der Mensch nur unbewaffnet ins Gelobte Land kommt! Dass der Mensch nur im Vertrauen auf Gott zum Ziel kommt!

Weil Gott ihm seine lähmende Angst abnimmt und in guten Mut verwandelt.

Willst du gesund werden?, fragt Jesus den Gelähmten.

Und fast möchten wir den Kopf schütteln über diese völlig überflüssig scheinende Frage: Was, wenn nicht gesund werden, sollte der arme Mensch denn sonst wollen?!

Aber das ist natürlich nur vordergründig gedacht!

Gehen wir einen Schritt weiter in die Tiefe, so erkennen wir:

Es ist gar nicht immer so selbstverständlich, dass wir wirklich gesund werden wollen! Man kann sich auch arrangieren mit der Krankheit:

Um sich vor den Anforderungen des Lebens zu verstecken.

Um sich der rauen Wirklichkeit nicht stellen zu müssen.

Um bemitleidet zu werden. Damit Alle pfleglich mit Einem umgehen müssen.

Willst du gesund werden?

Willst du dein Leben unter den Augen Gottes und in seinem Sinn verbringen?

Oder ziehst du es vor, solange wie möglich in deiner selbstgemachten Welt zu bleiben?

Wohin zieht es dich in deinem Innersten?

Zum Geld?

Zur Macht?

Zum Vergnügen?

Oder zu Gott?

Was erwartest du letztlich vom Leben – was willst du?

Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein. 

Was ist denn das für eine Antwort?!

Ich meine: Er hätte ja sagen können «Ja, gern!» oder «Ja, bitte!» oder «Ja, Herr, mach mich gesund!» Aber nein: Stattdessen fängt der Mensch sofort an, sich zu erklären und zu entschuldigen. Gibt Jesus gar keine Antwort auf seine Frage, sondern erzählt ihm seine ganze Leidensgeschichte.

Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin! Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin. Es war aber Sabbat an diesem Tag. 

Auf das Wort, das Jesus zu ihm sagt (zu ihm – in seine ganz persönlichen Gedanken, in seine Seele hinein), wird der Mensch gesund.

Das heisst: Er nimmt seine Bahre – das Zeichen seiner Gebrechlichkeit – und geht mit ihr weiter. Mit ihr, nicht ohne sie!

Das ist der neue Umgang mit unseren Schwächen, den Jesus uns hier zeigt:

Dass wir sie mitnehmen auf unseren weiteren Lebensweg.

Aber eben anders als vorher.

Nicht mehr so, dass wir uns von ihnen lähmen, blind machen, verzehren lassen vor lauter Angst – mit einem Wort: nicht mehr so, dass sie uns an unserer Entwicklung hindern können!

Sondern so, dass wir mit ihnen einen konstruktiven Umgang finden!

Dass wir leben können – auch mit unseren Schwächen!

So nämlich kommt der Sabbat – der Tag des Gottesfriedens – in unser Leben.

Der geheilte Mensch nimmt seine Bahre – das Zeichen seiner Gebrechlichkeit – und geht mit ihr weiter.

Dazu eine kleine Geschichte zum Schluss. Sie stammt von Dan Millman, dem geistlichen Lehrer, Autor des Buches «Der Pfad des friedvollen Kriegers»:

Ein junger Mann hatte fünf Jahre lang mühsam nach der Wahrheit gesucht. Eines Tages, als er die Ausläufer eines grossen Gebirges bestieg, sah er von oben einen alten Mann herunterkommen, der einen schweren Sack auf dem Rücken trug.

Er spürte, dass dieser alte Mann auf dem Gipfel gewesen war.

Endlich hatte er einen Weisen gefunden- einen, der ihm die Frage beantworten konnte, die sein Herz am meisten bewegte.

‘Bitte, oh Herr‘, sprach er ihn an… ‘sag mir, was Erleuchtung
bedeutet.‘

Lächelnd blieb der Alte stehen. Er blickte den jungen Mann unverwandt an, liess langsam die schwere Last von seinen Schultern gleiten, legte den Sack auf den Boden und richtete sich auf.

‘Aha, ich verstehe…‘ erwiderte der junge Mann.
‘Aber was kommt nach der Erleuchtung?‘

Da holte der alte Mann tief Luft, lud sich den schweren Sack wieder auf den Rücken und ging weiter…

Ja, so soll es sein – Amen.