“Du bist mein lieber Sohn”

Predigt zu Markus 1,9-13.

Gehalten am Sonntag «Invocavit», 26. Februar 2023 von Pfarrer Konrad Bruderer

Und es begab sich zu der Zeit, dass Jesus aus Nazareth in Galiläa kam und liess sich taufen von Johannes im Jordan. Und alsbald, als er aus dem Wasser stieg, sah er, dass sich der Himmel auftat und der Geist wie eine Taube herabkam auf ihn. Und da geschah eine Stimme vom Himmel: Du bist mein lieber Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen. Und alsbald trieb ihn der Geist in die Wüste; und er war in der Wüste vierzig Tage und wurde versucht von dem Satan und war bei den Tieren, und die Engel dienten ihm.

Liebe Gemeinde!

Was wir in diesen wenigen Versen gehört haben, ist in Wahrheit ein neutestamentliches Schwergewicht, eine Schlüssel-Geschichte in allen vier Evangelien. Weil sie wie ein Schlüssel Türen aufmacht; uns Zutritt in neue Räume verschafft; uns neue Ein- und Ausblicke schenkt.

Ein Schlüssel-Geschichte ist diese Geschichte nur schon darum, weil jetzt zum ersten Mal die wichtigste aller Schlüssel-Gestalten der Bibel erscheint:

Und es begab sich zu der Zeit, dass Jesus aus Nazareth in Galiläa kam…

Nun wissen wir Alle natürlich, wie wichtig die erste Begegnung mit einem Menschen ist, der erste Eindruck, den wir von einem anderen Menschen bekommen:

Wir schauen genau hin, wer da auf uns zu kommt.

Wir hören genau hin, was da auf uns zu kommt.

Aus der ersten Begegnung zieht man seine Schlüsse – für alles Weitere. Und es ist bekanntlich sehr schwer, einen ersten Eindruck grundsätzlich zu korrigieren!

Es kommt: Jesus aus Nazaret in Galiläa…

Wir versetzen uns in die Menschen der biblischen Zeit damals, die dort am Ufer des Jordans versammelt waren; mit ihren Augen schauen wir genau hin – und sehen:

Wer da kommt, ist niemand, den man kennt. Niemand, den man kennen müsste; keine bekannte, wichtige, einflussreiche Persönlichkeit. Die kamen ja alle aus Jerusalem damals. Nazareth aber war ein völlig unbedeutendes Provinznest – und Galiläa die Gegend, wo sich die Füchse und die Hasen Gutenacht sagten…

«Und es begab sich zu der Zeit, dass Jesus aus Nazareth in Galiläa kam» heisst also mit anderen Worten:

Der da kommt, ist einfach und blossein Mensch.

Niemand fällt auf die Knie bei seinem Erscheinen – es wird nicht einmal jemand den Kopf gedreht und ihn bewusst wahr genommen haben.

Zumal dieser Mensch jetzt auch nur tut, was sie Alle dort tun, wozu sie Alle ja hergekommen sind:

… und liess sich taufen von Johannes im Jordan.

Unscheinbar – klein – einfach – ohne jeglichen Dünkel erscheint der Mensch Jesus aus Nazareth in Galiläa.

Albert Schweitzer, der Urwalddoktor, der auch ein namhafter Theologe war, schreibt am Ende seines über 800-seitigen Jesusbuches:

«Als ein Unbekannter und Namenloser kommt er zu uns…»

Jesus kommt nicht mit Scheinwerferlicht und laufenden TV-Kameras, kommt nicht mit einer Serie von PR-Artikeln in allen Tageszeitungen auf Seite eins. Macht von seinem Kommen wenig – macht gar kein Aufhebens!

Aber, so lesen wir weiter: Als er aus dem Wasser stieg, sah er, dass sich der Himmel auftat und der Geist wie eine Taube herabkam auf ihn. Und da geschah eine Stimme vom Himmel: Du bist mein lieber Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen.

Der Himmel tut sich auf und aus diesem nun heiteren Himmel kommt …

… wir schauen genau hin – und sehen: eine Taube.

Die Taube – sie erinnert an die Geschichte von Noah und der Sintflut:

Die Taube bringt den Frieden!

Die Taube ist übrigens der einzig heilige Vogel in der Bibel.

Unsere Schlüsselgeschichte macht deutlich:

Gott ist kein Gott der grossen Effekte; Spektakel hat er nicht nötig! Wer wirklich Kraft hat, muss diese nicht dauernd demonstrieren; wer wirklich Kraft hat, braucht kein Imponiergehabe – wie ein Löwe. Der kann es sich ganz im Gegenteil erlauben, ganz sanft daherzukommen – wie eine Taube.

Statt lautem Löwengebrüll braucht es jetzt etwas ganz anderes, einen ganz anderen Schlüssel. Wir hören genau hin – und vernehmen: eine Stimme.

Eine Stimme braucht es jetzt; eine Stimme, die erklärt, was da überhaupt geschieht!

Stimme heisst Sprache, heisst Mittel zur Verständigung.

Die Stimme, die Sprache deutet uns das Geschehen.

Wenn wir auf sie hören.

Was hören wir?

Du bist mein lieber Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen.

Das sind Worte aus dem Buch des Propheten Jesaja; jedem mit der Bibel vertrauten Menschen – und das waren damals so ziemlich alle – bestens bekannt.

Die Stimme sagt also: «Du bist der Mensch, von dem Jesaja geredet hat. In dir erfüllt sich diese Prophezeiung».

Mit anderen Worten: Im Erscheinen dieses Menschen «Jesus aus Nazareth in Galiläa» – zeigt sich Gott den Menschen.

Wir lesen weiter:

Und alsbald trieb ihn der Geist in die Wüste; und er war in der Wüste vierzig Tage und wurde versucht von dem Satan und war bei den Tieren, und die Engel dienten ihm.

Kaum ist er gekommen, verschwindet dieser Gottesmensch auch schon wieder. Gott zeigt sich — und Gott verbirgt sich. Wir können ihn nicht fassen. Der Mensch kann Gott nicht erfassen. Der Schlüssel, den er uns in die Hand gibt, ist eben kein Passepartout, kein Dietrich, mit dem wir jederzeit überall hineinschauen können, wie es uns gerade passt. Gott steht nicht zu unserer Verfügung wie ein Ding, das wir besitzen.

Jesus geht in die Wüste.

Die Wüste bezeichnet die Situation, wo der Mensch ganz aus der Hand Gottes lebt.

Der Mensch lebt aus Gottes Hand – das ist der Schlüssel: Der Mensch lässt sich von Gott erfassen – nicht umgekehrt!

Jesus bleibt vierzig Tage in der Wüste:

Vierzig ist die Zahl der Zubereitung, der Erziehung, der Prüfung. Vierzig Jahre ist das Volk Gottes in der Wüste – bis es soweit zubereitet ist, dass es ins Gelobte Land einziehen kann. Vierzig Tage ist Mose auf dem Berg, wo er von Gott die Zehn Gebote in Empfang nimmt, mit denen Gott den Menschen erziehen und prüfen will. Damit der Mensch sein Leben bestehen kann.

In der Wüste begegnet Jesus aber auch dem Gegenspieler Gottes, der in der Sprache der Bibel Satan heisst, eben: der Hinderer; und Diabolos, der Durcheinanderbringer.

Weil er im Gegensatz zu Gott mit seinen Prüfungen – den Menschen versuchen, also in eine Lage bringen will, die der Mensch nicht bestehen kann. In eine Lage, die den Menschen am Fortkommen hindert, die ihn ganz durcheinander bringt…

Markus spricht vom Bösen nur grad in einem halben Satz – und im ganzen weiteren Evangelium übrigens bloss noch zwei Mal.

Ganz im Sinn des Markusevangeliums wird fast 2’000 Jahre später der Schweizer Theologe Karl Barth zu dieser – wie er sie nennt, «wüsten Sache» – schreiben:

«Es geht nicht darum, sie leicht zu nehmen, es geht aber darum, sie so zu behandeln, wie es ihr ihrem Wesen nach zukommt. Gerade ein kurzer, scharfer Blick darauf ist für sie nicht nur genügend, sondern auch das einzig Richtige.»

So, jetzt wissen wir’s: Ein kurzer scharfer Blick – und das ganze wüste Zeug hat ausgespielt! Sich nicht lähmen lassen vom Bösen, gefangen nehmen – gebannt darauf starren wie das sprichwörtliche Karnickel auf die Schlange… – sich hindern lassen.

Ein kurzer scharfer Blick: Halten wir uns an den Rat von Karl Barth, machen wir’s wie der Evangelist Markus, lassen den Satan hinter uns und wenden uns dafür wieder Jesus zu! Er ist in der Wüste zusammen mit den Tieren und den Engeln. Tier und Mensch und Engel, also alle Geschöpfe Gottes, in Frieden miteinander vereint. Ein Zeichen ist das – ein Zeichen für das verloren geglaubte Paradies, das sich wiederfinden lässt. Wie verlorene Schlüssel zum Glück ja meistens wieder auftauchen, wenn auch nicht unbedingt dort, wo wir sie gesucht haben…

Zum Schluss eine kleine Geschichte aus der Welt der amerikanischen Ureinwohner, die in meinen Augen auch das Zeug zu einem Schlüssel hat – in Ihren vielleicht auch:

«Eines Abends erzählte ein alter Häuptling seinem Enkelsohn am Lagerfeuer von einem Kampf, der in jedem Menschen tobt.

Er sagte: Mein Sohn, der Kampf wird von zwei Wölfen ausgefochten, die in jedem von uns wohnen.

Einer ist böse. Er ist der Zorn, der Neid, die Eifersucht, die Sorgen, der Schmerz, die Gier, die Arroganz, das Selbstmitleid, die Schuld, die Vorurteile, die Minderwertigkeitsgefühle, die Lügen, der falsche Stolz und das Ego.

Der andere ist gut. Er ist die Freude, der Friede, die Liebe, die Hoffnung, die Heiterkeit, die Demut, die Güte, das Wohlwollen, die Zuneigung, die Grosszügigkeit, die Aufrichtigkeit, das Mitgefühl und der Glaube.

Der Enkel dachte einige Zeit über die Worte seines Grossvaters nach, und fragte dann: Und welcher von den beiden Wölfe gewinnt?

Der alte Mann antwortete: Der, den du fütterst.»

Ja, so soll es sein – Amen.