“Kind, entlassen sind deine Verfehlungen”

Predigt vom 23. Oktober 2022 in Kirche San Nazzaro

Pfarrer Konrad Bruderer

Und nach etlichen Tagen ging er wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt, dass er im Hause war. Und es versammelten sich viele, sodass sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort. Und es kamen einige, die brachten zu ihm einen Gelähmten, von vieren getragen. Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, gruben es auf und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag. Da nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben. Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen: Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein? Und Jesus erkannte alsbald in seinem Geist, dass sie so bei sich selbst dachten, und sprach zu ihnen: Was denkt ihr solches in euren Herzen? Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin? Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden – sprach er zu dem Gelähmten: Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim!  Und er stand auf und nahm sogleich sein Bett und ging hinaus vor aller Augen, sodass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben solches noch nie gesehen.

Markus 2,1-12

Liebe Gemeinde!

Diese Geschichte hören und ungefähr in ihrer Mitte über einen Satz stolpern, ist eins: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben!

Man stelle sich das einmal plastisch vor: Da liegt ein Lahmer Jesus zu Füssen. Er ist unter erheblichen Schwierigkeiten von vier Leuten dorthin gebracht worden: Zuerst mussten sie sich mit ihm einen Weg durch die Menschenmenge bahnen, die das Haus umstellte; dann das flache Dach abdecken – Steinplatten und Lehmklumpen und Schilfbündel wegschaffen – und schliesslich den Mann durch das Loch im Dach abseilen, Jesus vor die Füsse…

Und da liegt er nun in seiner Hilflosigkeit, der arme Mensch: Umringt von Schaulustigen, die alle – auf ihren zwei Beinen – um ihn herumstehen!

Wie die Gitterstäbe eines Gefängnisses muss der Anblick ihm wohl vorgekommen sein, so von unten betrachtet – so am Boden!

Da liegt er nun, schaut voll Erwartung und Hoffnung Jesus in die Augen…

… und bekommt zu hören – ich übersetze wörtlich aus der Originalfassung: «Kind, entlassen sind deine Verfehlungen!»

Hat man ihn dazu hierher getragen?! Was soll denn – in diesem Zusammenhang! – die Rede von Verfehlungen, von Sünden?! Hat der Mensch nicht andere Sorgen, als über seine Sünden nachzudenken, die so furchtbar gross wohl kaum gewesen sein können, bei einem Lahmen: Wo hätte der auch hinspringen sollen?!

«Kind, entlassen sind deine Verfehlungen!»

Fast schon tönt es nach einem billigen Trost, dieses Wort aus Jesu Mund; nach einer Unbekümmertheit um die wahren Nöte des Menschen!

Und wird uns darum zum Stolperstein.

Gut, es gibt natürlich auch hier, wie immer in der Bibel bei sogenannten «schwierigen Stellen», Erklärungsversuche:

Es wird, zum Beispiel, erklärt, dass in neutestamentlicher Zeit die Menschen eben noch einen direkten Zusammenhang zwischen Sünde und Krankheit angenommen hätten. Für sie sei eine Krankheit nämlich nichts Anderes gewesen als die Strafe Gottes für begangene Verfehlungen.

Also wären, nach diesem Erklärungsversuch, Geschichten wie die heutige Beispiel für die Finsternis jener Zeiten; für uns, die wir glücklicherweise im Denken weiter fortgeschritten sind, höchstens interessant als Müsterli für längst Vergangenes und Überwundenes unter dem Titel: «Primitives Volk in finsteren Zeiten…»

Was also Jesus dem Mann – immer nach diesem Erklärungsversuch – gegeben hätte, wäre zwar nicht gerade nichts, wäre aber bloss ein kleiner Trost:

Du bist zwar lahm, also gestraft – wirst wohl wissen, warum…

Aber jetzt wird wenigstens dein Sündenregister im Himmel gestrichen und du stehst leumundsmässig wieder sauber da.

Wenigstens das.

Bloss:

Was sagt die dermassen erklärte Geschichte uns?!

Uns, die wir im 21. Jahrhundert leben, aufgeklärt sind und die Forschungsergebnisse sämtlicher moderner Wissenschaften zur Verfügung haben, wenn Probleme auftauchen!

Heute gibt’s doch Psychopharmaka; heutzutage muss doch niemand mehr sich von einem akut auftretenden Sündenbewusstsein bodigen lassen!

  • Die Vorstellungen, die man in unserer Zeit folglich mit dem Wort «Sünde» verbindet, sind in der Regel entweder humoristischer Art: «Wir sind Alle kleine Sünderlein, ’s war immer so, ’s war immer so!»
  • Oder sie haben zu tun mit dem Autofahren: ein «Verkehrssünder» ist jemand, der oder die beim Parken den Zweifränkler nicht einwirft.
  • Oder aber die Sündenvorstellungen betreffen unsere Konsumgewohnheiten: Schwarzwäldertorte ab dem zweiten Stück läuft unter «sündigen»…
  • Der historische Erklärungsversuch bringt uns also – wenig Neues. Man stolpert jetzt zwar nicht mehr über diesen «Brocken» – aber bloss um den Preis eines Ausweichmanövers!

Ein anderes Erklärungsmodell, das praktisch veranlagte, sagt:

«Schauen wir doch, wie die Sache endet – am Schluss wird der Mann ja geheilt – und das ist doch die Hauptsache, oder?»

Dass die vorher noch ein religiöses Spezialproblem miteinander diskutierten, Jesus und die Fachgelehrten der Theologie, das ist doch Nebensache!

Theologen – ob «Schriftgelehrte» damals oder Pfarrer heute – die sind halt so, spitzfindig, zänkisch, besserwisserisch – «s’ war immer so, s’ war immer so!»

Hauptsache, der Mann steht – vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben – auf seinen eigenen zwei Beinen!

Aber leider stimmt dieser an sich simple Erklärungsversuch mit den Gegebenheiten in unserer Geschichte nicht überein: Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden – sprach er zu dem Gelähmten: Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim!

So steht es geschrieben: Es geht Jesus eindeutig um die Vergebung von Sünden!

Dass der Mensch auch noch von seiner Lähmung geheilt wurde, steht damit im Zusammenhang!

Darum lassen wir jetzt unsere Erklärungsversuche – und drehen den Spiess einmal um: Jetzt lassen wir uns von dieser Geschichte unsere Situation erklären, statt von unserer Situation aus die Geschichte erklären zu wollen.

Darum geht es nämlich beim Bibellesen:

Wenn wir die Bibel uns erklären lassen, dann wird’s bald einmal spannend, interessant und neu.

Wenn hingegen wir die Bibel erklären (wollen) – dann wird das bald einmal ziemlich langweilig. Weil wir immer nur so viel in die Bibel hineintragen können, wie wir schon wissen. Also nichts Neues.

Umgekehrt ist’s viel besser:

Weil die Bibel Dinge in uns hinein bringt, die wir nicht sowieso schon wissen und immer gewusst haben. Neues eben.

Lassen wir die Bibel also erklären:

«Kind, entlassen sind deine Verfehlungen!»

Deine Verfehlungen:

Was dich daran gehindert hat, echt zu leben – fröhlich, im Einklang mit Gott und mit dir selbst und mit der Welt.

Was dich irgendwie gelähmt hat – dein unseliges Bedürfnis, nur ja keine Fehler zu machen; deine unselige Meinung, du müsstest dich verstellen (vor deinen Nachbarn, vor deiner Lebensgefährtin, vor dir selbst, vor Gott). Alles halt, was nur Schein war und kein Sein:

Unsere Schein-heiligkeit, unsere Schein-freundlichkeit, unsere Schein-liebe. All die vielen kleinen – oder auch weniger kleinen – Lügen und Verstellungen, die sich da so im Verlauf eines Lebens angehäuft haben und die uns jetzt eben hindern am Leben; uns lähmen, gefangen halten so, dass wir die Welt manches Mal schon wie durch die Gitterstäbe eines Gefängnisses sehen…

Alles, was wir herumgeschleppt haben mit uns die ganze Zeit – unsere Verfehlungen. Die sind entlassen worden.

Die sind entlassen worden!

Können uns den Schritt in die bessere Zukunft nicht verbauen.

Können nicht.

Weil sie entlassen sind – also nichts mehr zu melden haben.

Weil ihnen gekündigt worden ist.

Und wir darum neu anfangen können.

Ja, und wenn uns dann das alte Leben wieder einmal bodigen und lähmen will – dann suchen wir Gottes Nähe und rufen Ihn an. Wir brauchen dazu nicht das Dach unseres Hauses abzudecken. Es genügt, wenn wir uns öffnen.

Wir öffnen uns – und Jesus sagt uns das Wort «Kind, entlassen sind deine Verfehlungen» und wir machen einen «Neustart»!

Ja, so soll es sein Amen.