Predigt im Gottesdienst vom 24. Juli 2022 in Bellinzona; gehalten von Pfr. H.-K. Bruderer
Wie köstlich ist deine Güte, Gott! Im Schatten deiner Flügel bergen sich die Menschenkinder.
Psalm 36,8
O Dio, com’è preziosa la tua benevolenza! Perciò i figli degli uomini cercano rifugio all’ombra delle tue ali
Liebe Gemeinde!
In diesen heissen Sommertagen sucht der Mensch den Schatten. Das möchte ich mit Ihnen zusammen zur Predigt auch machen – im Geist den Schatten suchen. Wenn Petrus uns zuhört, sorgt er demnächst vielleicht für ein paar kühlere Tage, damit wir uns nach dieser Hitzeperiode im Schatten erholen können …
Sie merken schon, woher die Inspiration zu dieser Predigt gekommen ist: Aus der Transpiration halt; aus dem schweissgebadeten Dasitzen vor dem offenen Bibelbuch an einem heissen Tag im Juli!
Ein an sich banaler Anlass also: Da sitzt einer im Schweisse seines Angesichts bei seiner Arbeit und träumt dabei von einem schattigen Plätzchen unter dem Laubdach eines grossen Baumes; irgendwo in einem Park, wo ein angenehm kühles Lüftchen ihm Erfrischung zufächelt… Abkühlung für den erhitzten Kopf, Inspiration – «Ein-wehung» heisst das ja auf Deutsch! – für den schlaffen Geist…
Ein an sich banaler Anlass.
Da habe ich halt die Bibel gefragt, ob sie etwas zu sagen habe zum Thema «Schatten spenden».
Hat sie:
Von der Geschichte ganz am Anfang, wo Abraham unter dem Schatten seines Zeltes in der Mittagshitze, ohne es zu wissen, die Abgesandten Gottes empfängt – bis hin zur Erzählung Jesu, dass die Wirklichkeit Gottes auf Erden einem Senfkorn gleiche, das zu einer grossen Staude heranwächst, in deren Schatten die Vögel des Himmels nisten.
Übrigens sind auch das zwei an sich banale Anlässe:
- Abraham und seinen Gästen geht es, wie es uns auch geht an heissen Tagen – sie suchen den Schatten… Aber dann ereignet sich in dieser alltäglichen Sommer-Szene die ganz und gar nicht alltägliche Begegnung zwischen Gott und dem Menschen!
- Ein Senfkorn, Sinàpis arvènsis etwa, der kommune Ackersenf, wird zum Sinnbild für das Reich Gottes auf Erden: Ein unscheinbarer Anfang, der doch schon eine grossartige Zukunft anzeigt!
Insofern können in scheinbar banalen Anlässen – wie dem Schwitzen eines Pfarrers ob seiner Predigtaufgabe und dem Sitzen einer Gottesdienstgemeinde in einer Kirche an einem Sonntagmorgen im Juli – durchaus grosse Möglichkeiten schlummern…
In den Psalmen bin ich schnell fündig geworden – sie verwenden das Bild vom Schatten gern, um uns zu zeigen, wie Gott uns Menschen schützt und behütet.
So auch in diesem Vers aus Psalm 36:
Wie köstlich ist deine Güte, o Gott! Im Schatten deiner Flügel bergen sich die Menschenkinder.
Was für ein schönes Bild, nicht:
Die Menschenkinder finden Geborgenheit unter den ausgebreiteten Flügeln Gottes; in seinem Schatten sind sie sicher!
Ein theologischer Fachmann schreibt dazu:
«Schatten ist in der altorientalischen Bildersprache Ausdruck für den unmittelbaren Schutzbezirk.»
Wir können das gut nachvollziehen:
Der Orient ist eine heisse Gegend, die Sonne bedeutet Bedrohung und Gefahr («Transpiration»!), der Schatten bietet Schutz und Erfrischung – der Schatten «inspiriert» – haucht neue Lebensgeister in den überhitzten Leib, in die ausgedörrte Seele.
Und nun ist dieses schöne Bild also ein Gleichnis für die Beziehung Gottes zu den Menschen: Gott breitet seine Flügel aus über die Menschenkinder.
Diese «Flügel», so lehren uns die Theologen, seien zu verstehen als Sinnbilder für Schutz und Geborgenheit: die Vorstellung stamme aus dem Bereich des Heiligtums, wo die Cheruben ihre Flügel über die Bundeslade ausbreiteten als Zeichen für die wirksame Schutzmacht Gottes für alle Verfolgten und Geplagten…
Gott breitet seine Flügel aus über die Menschenkinder – wie eine Henne «ä Gluggere» über ihre Jungen, «d Bibeli»!
Ein feminines Gottes-Bild: Gottes mütterliche, schützende, schattenspendende Fürsorge rückt hier ins Zentrum.
Wie köstlich ist deine Güte, o Gott!
- «Köstlich» – also: kost-bar, teuer, wert-voll ist, was Gott dem Menschen zukommen lässt.
- «Gut» ist es – was in der biblischen wie in unserer deutschen Sprache soviel heisst wie: passend; brauchbar; tauglich; wirksam.
- Bei Gott «bergen sich» die Menschenkinder: «Bergen» – da steckt «Berg» drin, als Ort der Ge-borgen-heit. Und da steckt «Burg» drin, als Ort des Schutzes («Schutz und Trutz» sagten unsere Geschichtslehrer in der Schule, wenn sie uns die Bedeutung der Burgen erklärten).
Der Berg und die Burg: das sind sichere Orte; sichere Orte und sichere Werte!
Wie köstlich ist deine Güte, o Gott! Im Schatten deiner Flügel bergen sich die Menschenkinder.
Erinnern Sie sich an die Lesung aus dem Evangelium, an die Geschichte von Marta und Maria?
Sie ist, denke ich, ein guter Wegweiser für die Richtung, in welche uns das Psalmwort führen will:
- Marta, die herum hetzt, sich erhitzt, transpiriert – sich im Schweisse ihres Angesichts abmüht…
- Und Maria, die sich «zu Füssen des Herrn nieder setzt», in den Schatten seiner Flügel sozusagen, und seiner Rede zuhört – sich inspirieren lässt.
Inspiration und Transpiration:
Von Thomas Edison, dem amerikanischen Erfinder, dem wir so nützliche Dinge wie die Glühlampe verdanken, stammt der Spruch, dass die grossen menschlichen Errungenschaften zu 1% aus Inspiration und zu 99% aus Transpiration bestehen…
Ich denke, dass uns die Bibel mit dieser Geschichte von der Begegnung zwischen Jesus und den beiden Schwestern Marta und Maria Mut machen will, der Inspiration eine etwas höhere Rate als bloss das eine Prozent zuzutrauen!
Ich weiss nicht, wie es Ihnen geht; ich jedenfalls muss zugeben, dass ich es grundsätzlich schon eher wie Marta halte und wie sie die Transpiration besser kenne als die Inspiration.
Weil ich’s gar nicht so einfach finde, wie Maria «nichts» zu tun – und dafür etwas werden zu lassen:
- Transpiration ist eben sichtbar, greifbar, fühlbar – die geht ja von mir aus; ich bin es, der die Initiative ergreift…
- Inspiration dagegen muss mir zukommen; muss zu mir kommen, muss in mich hinein kommen, muss mich ergreifen.
Da ist Geduld gefragt, diese seltene Eigenschaft, köst-lich und wert-voll – und vielleicht eben darum, wie alles Kostbare, eher rar…
Es braucht halt das, was uns Menschen der Gegenwart fehlt wie fast nichts Anderes, es braucht halt Zeit: «Gut Ding will Weile haben»
Wie köstlich ist deine Güte, o Gott! Im Schatten deiner Flügel bergen sich die Menschenkinder.
- Wir haben einen Gott, der Schatten spendet, wenn sich das Gemüt erhitzt – wenn sich der Leib erschöpft – wenn die Seele dürstet.
- Wir haben einen Gott von mütterlicher Fürsorge.
- Wir haben einen Gott von wertvoller Brauchbarkeit.
- Einen passenden Gott.
- Einen Gott, der zu uns passt. Und wir zu Ihm.
Sich von Ihm inspirieren zu lassen, ist lohnend – und die Jahreszeit günstig: Sommerferien – da hätten wir doch eigentlich Zeit, mehr als sonst das Jahr über…
Dazu eine Geschichte, inspiriert von Heinrich Böll:
Ein Tourist ging einst mit seiner Kamera über einen wunderschönen Palmenstrand, und blickte auf das türkisblaue Meer und den weißem Sand. Da sah er einen jungen einheimischen Fischer in der Sonne liegen und ein kleines Schläfchen machen.
Da dachte er bei sich: «Wie kann man nur so ruhig schlafen, und faul in der Sonne liegend seinen Tag vertun, wo es im Meer von Fischen nur so wimmelt.»
«He, Fischer», sprach da der Tourist, «warum liegst Du hier untätig in der Sonne und verschläfst den guten langen Tag, während das Meer all seine Reichtümer für Dich bereit hält. Fahre hinaus und werfe Deine Netze aus, und Du wirst mit einem großen Fang heimkehren.»
«Warum soll ich fischen, wo ich doch satt bin, und unser Fisch noch bis zum nächsten Tage reicht. Und das Meer hält stets neuen Fisch für mich bereit?» war die Antwort.
«Nun Du könntest den Fisch zum Markt bringen und ihn dort verkaufen.» sprach der Tourist.
«Wofür soll dies gut sein, was habe ich davon, den Fisch zum Markt zu bringen?» erwiderte der junge Mann.
«Es würde Dir auf die Dauer einen schönen Batzen Geld einbringen, so dass Du Dir ein zweites Boot kaufen könntest, und so würdest Du doppelt so viel fangen wie jetzt.» insistierte der Tourist.
«Was habe ich davon doppelt so viel zu fangen, wenn ich nicht einmal halb so viel essen kann?» wunderte sich der junge Mann.
«Du könntest dir weitere Boote kaufen und schliesslich eine Fischfangflotte dein eigen nennen, die so viel Fisch fangen könnte, dass du die ganze Region hier beliefern könntest. Es würde dir noch viel mehr Geld einbringen» war die Antwort.
«Was soll ich den mit dem ganzen Fisch und dem ganzen Geld, das ich dafür bekommen würde?» erwiderte der junge Mann.
«Nun, wie ich sehe, gibt es weit und breit nicht eine einzige Fischfabrik, Du könntest eine bauen, den Fisch dort verarbeiten und ihn dann in andere Länder exportieren. Du würdest ein reicher Mann werden und würdest schwimmen im Geld» sprach der Tourist.
«Und was soll ich dann machen mit all diesem Reichtum?» fragte der junge Fischer.
Der Tourist antwortete: «Du könntest dann andere für Dich arbeiten lassen, und Dich ausruhen und den ganzen Tag faul in der Sonne liegen.»
Da sprach der Fischer: «Das scheint mir genau das zu sein, was ich gerade tue. Wie schön zu hören, dass es mir ohne große Umwege und auf einfache Art gelungen ist, reich zu sein.»
«Nicht der ist arm, der wenig besitzt, sondern wer nach mehr verlangt.»
Dieser Satz steht zwar nicht in der Bibel, sondern beim römischen Philosophen Seneca. Aber als Anti-Transpirations-Mittel ist er durchaus bedenkenswert, finde ich – Sie vielleicht auch…
Ja, so sei es – Amen.