Christus in unserer Mitte

Eine Pfingstmeditation zu Joh 20, 19-22 von Pfarrerin Brigitte Schäfer

«Wenn Ostern und Pfingsten auf einen Tag fallen …», scherzhaft sagt man das, wenn man etwas verspricht, was man sowieso nicht halten kann oder wenn man nicht recht glaubt, dass etwas noch jemals eintreffen werde. Zwischen Ostern und Pfingsten liegen jeweils genau 50 Tage – das ist die Bedeutung des Wortes Pfingsten, abgeleitet vom griechischen pentecostè = der fünfzigste (Tag).

Wenn Ostern und Pfingsten auf einen Tag fallen – genau davon erzählt die Geschichte, um die es heute gehen soll. Das ist eben dann, wenn das Menschenunmögliche und von niemandem Erwartete passiert. Die Pfingstgeschichte, die uns das Johannesevangelium überliefert (20, 19-22) spielt nämlich am Osterabend nach der Entdeckung des leeren Grabes Jesu. Alle Jüngerinnen und Jünger sind beisammen – und sie haben Angst. Johannes sagt nicht genau, wo sie sich verstecken, und nennt auch keine Namen der Anwesenden. Waren es 11, 20 oder 50 Personen? Aber dass sie alles verrammeln, Türen und Fenster verriegeln, das erzählt er, und wir können uns ein Bild machen von der Atmosphäre in diesem Raum.

Ich stelle mir vor, dass da in diesem geschlossenen Raum ganz verschiedene Energien und Emotionen versammelt waren. Hoffnung und Angst, Ungewissheit, Anspannung, Trauer, Erwartung, Ungläubigkeit, Verzweiflung vielleicht sogar… Und da, in diese Atmosphäre hinein geschieht etwas Unerwartetes.

Wenn ich mir überlege, warum Pfingsten als Fest eigentlich eher ein Mauerblümchendasein führt im Vergleich zu Ostern und Weihnachten, denke ich, es liegt genau daran, dass man eben für Pfingsten nichts vorbereiten kann. Pfingsten ist das, was in diese Situationen von Ungewissheit und Anspannung hinein geschieht, plötzlich und unerwartet. Darauf kann man sich nicht vorbereiten. Da gibt es nichts zu backen und zu schmücken, nichts zu kaufen und zu schenken.

Da kommt etwas in den geschlossenen Raum. Das kann eigentlich überall sein, darum legt Johannes diese Geschichte gar nicht fest. Immer wieder gibt es Situationen, wo Menschen sich einschliessen, alles zu machen, keinen Kontakt mehr nach aussen wollen. Ich denke, wir kennen das auch von uns selber. Und gegenwärtig, nach einer erzwungenen Situation der Abgrenzung und Isolation, wie wir sie in den letzten Wochen erlebt haben, merken wir vielleicht, wie schwierig es sein kann, sich wieder unter die Menschen zu trauen, sich wieder dem Leben draussen und dem Leben miteinander zu öffnen.

Vielleicht geschieht es äusserlich, dass wir Türen abschliessen und Rollos herunterlassen, vielleicht nur innerlich, so dass wir sozusagen unsere Seelen verschliessen, weil wir nicht mehr mögen, weil wir uns schämen, weil wir Angst haben, oder weil wir nicht mehr weiter wissen. Da wo wir zumachen, da, wo wir keinen hineinlassen wollen, genau da hinein kommt Jesus, so erzählt unsere Geschichte. Er tritt in die Mitte und sagt: «Friede sei mit euch.» Ihm machen geschlossene Türen nichts aus, und das ist eben das Menschenunmögliche, das Wunderbare daran.

Vielleicht haben wir das auch schon erlebt. Wir machen innerlich zu, igeln uns ein, wollen keine guten Ratschläge mehr hören, keinen gutgemeinten Trost. Wir fühlen uns ganz allein. Und dann merken wir auf einmal: da gibt es eine Kraft, die unsere verriegelten Türen durchbrechen kann. Plötzlich ist sie da, ganz bei uns, da wo wir gerade noch niemanden hereinlassen wollten. Friede sei mit dir! Plötzlich beruhigt sich unser Herzschlag, plötzlich hellt sich unsere Stimmung auf. Woher kommt das jetzt auf einmal? Irgendwie aus der Mitte, ein beruhigendes Gefühl, wie eine tröstliche Stimme, oder wie ein grosser Schal, den uns jemand zart um die Schultern legt. «Da freuten sich die Jüngerinnen und Jünger», heisst es bei Johannes.

Ich glaube, solche ähnlichen Erfahrungen waren der Anfang unserer christlichen Gottesdienste. Die Menschen wollten zusammenkommen um genau das wieder zu erleben: Dass Christus durch die verschlossenen Türen hindurch in ihre Mitte tritt und sagt: Friede sei mit euch. Darum ist Christus bis heute eigentlich die Mitte unserer Gottesdienste. Nicht irgend ein heiliger Mensch oder Gegenstand, ein Dogma, eine Moral oder so etwas. Deswegen kommen wir am Sonntagmorgen zusammen, damit die Christuskraft in unserer Mitte spürbar wird. Ich freue mich sehr, dass wir das bald wieder in unseren Kirchen erleben dürfen.

In unserer Geschichte kommt die Freude in dem Moment, wo die Anwesenden Jesus wirklich erkennen. Da, wo sie seine Wunden vom Kreuz sehen und verstehen, dass es wirklich der Jesus ist, der als Mensch gelitten hat, der diesen unerklärlichen Frieden in ihre Mitte bringt. Das bedeutet: Nicht nur dann, wenn alles in Ordnung ist, wenn es optimal läuft, wenn es uns gut geht, wenn wir selber perfekt sind, ist Frieden möglich. Nein, gerade da, wo wir eben die Türen verriegeln und innerlich zu machen, da kommt er herein und die Stimmung wendet sich zur Freude. In diese Freude hinein sagt Jesus noch einmal: «Friede sei mit euch» und ermuntert sie, nun hinauszugehen und das Erlebte weiterzuerzählen. Aber bevor sie aufbrechen, vollzieht er noch ein spezielles Ritual: «Und nachdem er dies gesagt hatte, hauchte er sie an, und er sagt zu ihnen: Heiligen Geist sollt ihr empfangen!»

Diese Pfingstgeschichte vom Osterabend aus dem Johannesevangelium kommt ganz ohne das Brausen des Windes der viel bekannteren Pfingsterzählung aus der Apostelgeschichte aus, ohne die Feuerzungen, ohne ein Reden in allen möglichen Sprachen. Es ist eine stille, schlichte Erzählung, die jedoch mit grosser Intensität davon spricht, wie der Auferstandene auf seine Jüngerinnen und Jünger zukommt und sie in die Welt hinaus sendet.

Gottes Heil liegt in seiner Gegenwart: Christus tritt in unsere Mitte, er zeigt sich uns, er stärkt uns mit seiner Geistkraft, damit auch wir zur heilvollen Gegenwart für einander und für andere werden können.